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Die gelbe Tapete

In meinem ganzen Leben habe ich noch keine so schlimme Tapete gesehen. Sie hat ein wildwucherndes, üppiges Muster, das allen Regeln der Kunst zuwiderläuft. Es ist so wirr, daß einem die Augen flimmern, wenn man dem Muster nachspürt, so ausgeprägt, daß es ständig irritiert und näheres Hinsehen verlangt; und folgt man den schwachen, unsicheren Kurven eine kurze Strecke, dann begehen sie plötzlich Selbstmord – tauchen in haarsträubenden Winkeln ab, zerstören sich in unerhörten Widersprüchen. Die Farbe ist abstoßend, geradezu ekelhaft, es ist ein schwelendes, schmutziges Gelb, das von dem langsam wandernden Sonnenlicht merkwürdig ausgebleicht wurde. An manchen Stellen ist es ein mattes und doch schreiendes Orange, an anderen ein kranker Schwefelton.

Charlotte Gilman Perkins, 1892

Mit „The Yellow Wallpaper“ (dt. „Die gelbe Tapete“) schrieb Charlotte Gilman Perkins Literaturgeschichte. Die autobiografisch geprägte Kurzgeschichte handelt von einer Frau mit postnataler Depression, die von ihrem Ehemann, einem Arzt, eine Ruhekur verschrieben bekommt. Im eigens dafür angemieteten Sommerhaus soll sie sich erholen. Die Einrichtung des ihr zugewiesenen Zimmers wird von einer gelben Tapete dominiert, die bald auch ihre Gedanken voll und ganz einnimmt. Dass dies nicht unbedingt heilsam ist, sondern zu einer ausgeprägten Psychose führt, schildert sie eindrücklich.

Im Göttinger Salon für Kunst und Kultur – kurz Sakuku – fand am 5. April 2018 eine Lesung der Kurzgeschichte mit Klangspiel statt. Parallel und ergänzend hierzu wurde eine Ausstellung konzipiert, zu der auch ich drei Bilder beigetragen habe. Gezeichnet mit Fineliner auf Papier, Format: 10 x 15 cm. Das Gelbe in den Bildern ist Bananenpapier, faserig und von einer rauen Haptik. Steht das Papier in dem einen Bild noch buchstäblich für die Tapete, hinter der ein Auge hervorlugt, so fungiert es in den anderen beiden als stark wucherndes Haar einer Frau, sei es der Autorin oder Protagonistin.

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Narr Em

Eine Kurzgeschichte.

Es war ein Tag im September, einer dieser Tage, an denen unklar ist, ob noch Sommer ist oder doch schon Herbst. Ich verließ das Haus bei strahlendem Sonnenschein, um ein paar Einkäufe zu erledigen, und schwitzte bereits nach ein paar Metern, da ich mich zu warm angezogen hatte. Ich trug ein Sommerkleid, darüber einen Mantel aus dichtem Wollstoff. Kaum hatte ich mich meines Mantels entledigt, schob sich eine Wolke vor die Sonne und eine heftige Windböe ließ die Blätter rauschen und mich frösteln. Ich zog meinen Mantel wieder an.

Ich besorgte Zahncreme in der Drogerie, frisches Brot beim Bäcker und kaufte ein paar Eier, Butter, Champignons, Petersilie und Zwiebeln im nahegelegenen Supermarkt. Heute Abend wollte ich mir ein einfaches Omelette machen, ganz für mich allein. In Gedanken hackte ich bereits die Petersilie, schwenkte Zwiebeln und Pilze in der Butter, als mich ein Regentropfen mitten ins Gesicht traf. Sein kaum hörbarer Platsch beförderte mich zurück in die Gegenwart. Ich blickte auf und sah mich einer dunklen Wolkenfront gegenüber.

Einen Regenschirm hatte ich natürlich nicht dabei. Da die Tropfen mit zunehmend geringer werdendem Abstand fielen und ich einen heftigen Guss erwartete, beschloss ich Schutz zu suchen und zu warten bis der Schauer vorübergezogen ist. Ich sah mich um und entdeckte unweit ein kleines Vordach.

Das Vordach gehörte zu einer Galerie, die ich bislang noch nie wahrgenommen hatte. Wie schlecht man doch seine Umgebung kennt, dachte ich mir und freute mich über diese unverhoffte Entdeckung. Neugierig beäugte ich den Eingang, eine Glastür, an der ein Zettel von innen mit Tesafilm befestigt worden war: „Die Galerie hat heute geschlossen. Bitte treten Sie ein.“

Ich ging hinein, stellte meine Einkaufstüte ab und sah mich um. Der Raum war schlicht rechteckig geschnitten, keine Vorsprünge, keine Erker. Wie für Ausstellungsräume üblich, waren die Wände weiß getüncht, der Putz an einigen Stellen jedoch abgeblättert, so als hätte sich schon lange niemand mehr die Mühe gegeben, den sterilen Charakter des Kunstraumes aufrecht erhalten zu wollen. Durch ein kleines vergittertes Fenster drang das Licht nur gedämpft ins Innere, weshalb ein bläulich flackerndes Neonlicht die Lichtstimmung dominierte. Der ehemals sicherlich penibel gewienerte Boden war mit tiefen Kratzern und unzähligen Flecken übersät, Spuren einer bewegten Vergangenheit.

Eine Maus huschte vorüber, beäugte mich skeptisch und verschwand dann in einer Ritze, die dort aufgestellte Mausfalle geschickt umgehend. „Die Maus ist das Narrem“, tönte es blechern aus einem Lautsprecher. Ich weiß nicht, was von beidem mich mehr irritierte, die kluge Maus oder die Durchsage. Oder das Arrangement, dem ich mich gegenübersah.

Es war mir auf den ersten Blick nicht ersichtlich, ob es sich um lebende Figuren oder aus Wachs nachgebildete handelte, so reglos saßen sie da. Die eine Figur, ein Narr, trug einen weißen Kittel, der ein bisschen so aussah wie der Kittel eines Laboranten, der mit Farbe besudelt war. Besonders die linke Seite war mit vielen Farbschichten bedeckt, so dass der Stoff nicht mehr fließend fiel, sondern ganz steif war. Daraus schloss ich, dass der Narr ein Linkshänder ist. Vielleicht ist das ja noch von Bedeutung, dachte ich. Die andere Figur, vermutlich ein Professor, trug ein dunkelblaues Sakko, am Rücken und in den Armbeugen verknautscht. Hornbrille, grau meliertes Haar, blasse, vom Rauchen leicht gelblich gefärbte Haut. Der Prototyp eines Wissenschaftlers, von der Ausstrahlung wahrlich nicht lebendiger als manche Plastiken Robert Gobers.

Das rechte Augenlid des Professors zuckte. Vermutlich machte ihn das Flackern des Neonlichtes nervös. Auch mich machte das Flackern unruhig. Außerdem stank es in dem Raum, als ob jemand in die Ecke uriniert und seine Ausscheidung mit Sauerkraut vermengt hätte. Ich überlegte wieder zu gehen, doch ein Blick nach draußen genügte, um mich davon zu überzeugen, trotz des unangenehmen Geruchs noch ein wenig zu verweilen.

Ich beobachtete also die beiden Männer, um mir die Zeit zu vertreiben. Sie saßen sich gegenüber. Der Narr starrte den Professor feindselig an. Dieser hingegen ließ seinen Blick locker im Raum umher schweifen, nicht dem Blick des Narren ausweichend, sondern gekonnt ignorierend. Hin und wieder aber, in einem unachtsamen Augenblick, wenn der Professor die Anwesenheit des Narren beinahe vergessen zu haben schien, kreuzten sich ihre Blicke. Doch sie schwiegen. Sie redeten kein Wort, nicht seitdem ich die Galerie betreten hatte. Sie schwiegen seit Stunden, seit Monaten, wenn nicht sogar seit Jahren, dem Staub auf ihren Schultern nach zu schließen.

Mich nahmen sie nicht wahr. Das fuchste mich. Warum kann ich nicht sagen. Vielleicht ein Gefühl von mangelnder Anerkennung. Jedenfalls stellte ich mich unmittelbar neben sie, um Aufmerksamkeit zu erhaschen, lief um sie herum, aber selbst als ich mich mit Herzklopfen zu ihnen an den Tisch setzte, reagierten sie nicht. Beschämt stand ich wieder auf. Ich fühlte mich plötzlich völlig fehl am Platz. Ich wollte etwas sagen, doch ich bekam meine Lippen nicht auseinander. Da ich es nicht wagte das Schweigen zu brechen, beschloss ich in aller Stille abzuwarten. Außerdem schüttete es draußen immer noch wie aus Eimern. Das war der eigentliche Punkt.

Ich zog meinen Mantel aus, setzte mich auf den Boden und wartete. Lange. Man kennt ja diese Performances, bei denen es um den Ausdruck von Präsenz geht, doch darum ging es hier nicht. Das spürte ich. Ich fragte mich, worüber die beiden gesprochen hatten. Es musste schließlich einen Grund für das unerträgliche Schweigen geben. Vermutlich hatten sie gestritten. Vielleicht litten die beiden aber auch an einer Stimmbandentzündung und mussten ihre Stimmen schonen. Unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen. Oder sie stört meine Anwesenheit, mutmaßte ich in einem Anflug von Selbstzweifel. Aber nein, natürlich nicht. Es ist einfach nur die Gesprächspause eines langen Dialoges, dessen Anfang ich verpasst habe. Da war ich noch nicht geboren.

Ich dachte an Brian und spreizte unwillkürlich meine Beine, so dass man sehen konnte, dass ich keinen Slip trug. Doch auch dies brachte die beiden Herren nicht aus der Fassung. Ein zuckendes Augenlid, gleichmäßiges Atmen. Ansonsten keine Reaktion. Es passierte einfach nichts. Langeweile überkam mich. Und es regnete immer noch. Meine Gedanken schweifen ab. Brian hat ein paar gute Aufsätze geschrieben. Ich habe sie alle gelesen – und größtenteils wieder vergessen. Aber ihn, ihn kann ich nicht vergessen.

 

*

 

Brian war gerade zu mir gezogen, als er auch schon wieder auszog. „Es ist so kühl hier“, sagte er. Vielleicht hätte ich nachgeben und die Wände farbig streichen sollen.

 

*

 

„Versteh’ doch endlich, du bist nicht einfach nur ein Narr, der tun und lassen kann, was er will, du bist ein Narr mit dem Namen Em, du bist ein Narrem! Du sorgst für Narrativität, überall dort, wo du auftauchst! Aber Kunst beginnt nun mal da, wo das Erzählen aufhört. Das ist der Grund, weshalb man dich lange nicht hier haben wollte. Doch nun sitzt du mit mir an diesem Tisch. Daran lässt sich nicht rütteln. Also erzähle endlich deine Geschichte“, polterte der Professor in die Stille hinein und durchbrach meine Erinnerungen. Brian mochte keine weißen Wände, ich schon.

„Meine Geschichte ist zu lang, um sie hier zu erzählen. Das weißt du doch. Immerhin haben Menschen schon immer Geschichten geliebt, haben erkannt, dass das Erzählen ein Mittel darstellt, um den Dschungel aus anscheinend unzusammenhängenden Geschehnissen zu ordnen und so ihr Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit zu befriedigen. Aber abgesehen davon, ich muss sagen, es belustigt mich, dass du mir nun doch zugestehst, ja sogar die Rolle aufdrückst, ein Faktor für Narrativität zu sein. Ich muss dich daher nochmals fragen, meinst du wirklich allen Ernstes, meine bloße Anwesenheit mache etwas erzählerisch? Nur deshalb, weil ich eine Figur bin, eine Figur mit einem Namen? Ist das nicht zu wenig?“, fragte Em und lächelte schief.

Sein Lächeln steigerte sich zu einem irren Lachen, kippte um in ein hysterisches Gelächter und Gackern, das der Professor mit einem heftigen Zucken seines Augenlids quittierte. Ich blickte nach draußen, der Regen hatte nachgelassen. Reflexartig stand ich auf, setzte mich nach einem kurzen Moment des Innehaltens dann aber doch wieder. Immerhin schien die Geschichte allmählich ins Rollen zu kommen und ich hatte es nicht eilig mit meinem Omelette.

„Nein, ist es nicht“, unterbrach der Professor das schelmische Glucksen. „Das habe ich dir doch schon mehrmals erklärt: Sobald eine Figur ins Spiel kommt, scheint sie auch schon zu agieren, selbst wenn sie ganz still steht. Und bei mehreren Figuren fragt man sofort nach deren Beziehung, was unausweichlich zu einer Art von Geschichte führt. Nimm doch einmal unsere Situation. Wir beide sitzen hier an diesem Tisch und transformieren damit diesen zugegebenermaßen ziemlich verlotterten Galerieraum in einen Erzählraum. Und dann kommt da auch noch diese Frau daher und sorgt mit ihrem Auftreten für weiteren Zündstoff.“

„Ach ja? Sie hat doch noch nicht einmal etwas gesagt.“ Der Kommentar des Narren kratzte an meinem Selbstbewusstsein, wusste ich doch selbst nicht so recht, weshalb ich immer noch kein Wort herausbrachte.

„Sie versucht die Handlung zu beeinflussen. Merkst du das nicht?“ Schon besser.

„Nun ja, sie beobachtet uns. Aber glaubst du wirklich, dass sich dadurch der Narrativitätsgrad dieses Raumes merklich steigert? Du tust mir leid, du mit deiner Vorliebe für Geschichten, die gar keine sind. Mir ist das Ganze noch viel zu langweilig. Wir brauchen einen handfesten Konflikt.“ Mit diesen Worten stand er auf und gab dem Professor eine Ohrfeige.

„Em, bist du völlig närrisch geworden?“

„Erst die eine Wange, dann die andere“, kicherte der Narr und verpasste dem Professor einen weiteren Hieb.

„Hör auf damit. Der Raum, in dem wir uns befinden, ist auch ohne deine Narreteien schon höchst erzählerisch. Immerhin ist seine Geschichte verwoben mit dem Theater, das wir hier aufführen“, wich der Professor dem nächsten Angriff geschickt aus.

„Du liegst falsch. Das Drama, das wir hier aufführen, kann überhaupt nicht narrativ sein. Hast du noch nie davon gehört, dass Geschichten erzählt werden müssen? Und sie macht den Mund einfach nicht auf.“ An dieser Stelle warf der Narr mir einen zornigen Seitenblick zu. Als wäre ich der Erzähler dieser Geschichte.

„Wir bieten genügend Anreiz, um die Fantasie zu beflügeln“, holte der Professor nun seinerseits zum Schlag aus. „Die da drüben“, zeigte er auf mich, „hat bestimmt schon ihre eigene Version der Geschichte entwickelt, die erklärt, wer wir sind, was wir machen, was das Ganze hier soll.“

„Hat sie das?“, kreischte der Narr und sprang auf mich zu.

 

*

 

„Die Maus ist kein Narrem“, verabschiedete ich mich hastig, froh doch noch etwas zu diesem seltsamen Schauspiel beizutragen, und stolperte ins Freie. Erleichtert atmete ich die frische Luft ein. Schon wieder ziehen Wolken auf, stellte ich fest, zog meinen Mantel eng um meine Taille und eilte schnell nach Hause, um mir endlich mein wohlverdientes Omelette zu bereiten.

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Freiheit

Ei – Taube – Stacheldraht. Drei Bilder, die assoziativ miteinander verknüpft sind und eigens für die Ausstellung „Reformation und Freiheit“ angefertigt wurde, die am 25. Januar in Hannover eröffnet und bis 2. März im Foyer des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover) zu sehen sein wird. Die Ausstellung ist eine Initiative des Illustratorennetzwerkes Hannover und neben mir stellen weitere sieben Künstlerinnen und Künstler aus Hannover und Umgebung aus. Dies sind Christina Vera-Eick, Susanne Eisermann, Anna Hammer, Evelyn Neuss, Anja Rommerskirchen, Thomas Rudat und Bernd Struckmeyer.

Was hat ein Ei mit einer Taube zu tun? Das ist einfach: Vögel schlüpfen aus Eiern. Und was hat die Taube mit dem Stacheldraht zu tun? Die weiße Taube als ein Symbol des Friedens trifft hier auf den Zaun als ein Symbol für Abgrenzung, Krieg, Zerstörung. Da wären wir wieder beim Ei, das gesehen werden kann als eine Welt, die zerstört werden muss, um eine neue zu erfahren. Nur indem die Taube das Ei zerstört, kann sie ihre Flügel ausbreiten und jeden Zaun überwinden, sei er aus Stacheldraht oder mental.

Der Zaun als physische Manifestation gedanklicher Barrieren ist in der Flüchtlingskrise gegenwärtig, zu Zeiten Martin Luthers waren Widerstände aber ebenso virulent. Seiner Reformbewegung kam die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg um 1440 entgegen, denn erst der Druck mit beweglichen Lettern ermöglichte die weite Verbreitung seiner Bibelübersetzung. Um hieran zu erinnern, sind die drei Bilder Ei  – Taube – Stacheldraht in klassischer Hochdrucktechnik ausgeführt.

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Die Küchenuhr

Anfang des Jahres habe ich für den Otto-Ditscher-Kunstpreis in einem nächtlichen Marathon drei Illustrationen zu Wolfgang Borcherts Die Küchenuhr angefertigt. Ich hatte die Ausschreibung erst kurz vor der Abgabefrist gesehen und war als frisch gebackene Mutter eigentlich auch vollauf mit anderen Dingen beschäftigt, wollte aber trotzdem unbedingt mitmachen – für einen ewigen Frickler wie mich also eine echte Herausforderung. Leider hat es nicht geklappt (die diesjährigen Preisträger sind Peter Engel aus Regensburg und Sarah Deibele aus Halle). Einen Blogbeitrag haben die drei Bilder gegen Ende des Jahres dann aber doch mal verdient.

Die Bilder habe ich mit Pigmentliner auf Papier gezeichnet. Das Leitmotiv – die Küchenuhr – ist durchgängig auf allen drei Bildern zu sehen. Die von den Leuten ausgesprochenen Kernsätze tummeln sich mit in den Bildern, die gegenseitig aufeinander referenzieren anstatt eine strikte Chronologie einzuhalten.

Bild 1


Der steinige Lebensweg des jungen, doch alt aussehenden Mannes, führt vom paradiesischen Urzustand vorbei am Baum der Erkenntnis; von der Versuchung – der Schlange – heimgesucht beginnt ein Krieg, der Verwüstung und Verletzungen hinterlässt. Allmählich beginnen jedoch wieder Tulpen zu sprießen, die vorsichtig eine erneute, zerbrechlich wirkende Friedenszeit einläuten, in der wir uns – zumindest regional – momentan (noch) befinden.

Bild 2

Die Personen auf der Bank sind bei Borchert sehr unbestimmt, ein Mann, eine Frau, jemand. Daher habe ich mich dafür entschieden stilisierte Typen zu gestalten, einen Hipster, einen Banker und eine Mutter mit einem Neugeborenen. Sie alle leben in ihrer Blase, beschäftigt mit ihren Problemen, unfähig zu erkennen, dass sie handeln müssen, nicht nur zugucken. Sie sitzen im Sonnenschein. Man kann nur hoffen, dass ihnen rechtzeitig ein Licht aufgeht, das Licht, das angeht, wenn die Mutter des Protagonisten die Küche betritt.

Bild 3

Auf diesem Bild nimmt die titelgebende Küchenuhr den gesamten Raum ein, noch in der Küche an der gekachelten Wand hängend. Die Zeiger stehen auf halb drei, einer Zeit, die für den Protagonisten symbolischen Wert besitzt. Das Granatapfelmotiv verweist auf das Paradies, kann der Granatapfel als Symbol für die Einheit in der Vielheit doch als Frucht vom Baum der Erkenntnis gelesen werden.

Mappe


Dasselbe Motiv befindet sich auch auf der Vorderseite der eigens gestalteten Aufbewahrungsmappe, wobei die Uhr hier noch nicht stehen geblieben ist – die Zeiger lassen sich bewegen.

Borcherts sich auf den 2. Weltkrieg beziehenden Text ist nach wie vor aktuell und gewinnt gerade angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen zunehmend an trauriger Relevanz: Die Menschen in den westlichen Wohlstandsländern realisieren wieder einmal nicht, dass sie vergleichsweise paradiesische Zustände genießen. Statt füreinander einzustehen und Solidarität zu leben, grenzen sie sich gegenseitig aus; sie hoffen auf den Eintritt ins Paradies nach ihrem Tod, indem sie für den Dschihad kämpfen, oder wenden sich dem rechten, unrechten Rand der Gesellschaft mit seiner Fremden- und Islamfeindlichkeit zu.

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Mix Pix #1

Word Clouds wurden in den letzten Jahren als “the gateway drug to textual analysis” gehandelt. Bei einer Word Cloud werden die einzelnen Wörter eines bestimmten Textes proportional groß zu ihrer Häufigkeit dargestellt, ausgenommen so genannter Stoppwörter, d.h. Wörter, die sehr häufig auftreten und in der Regel keine Rückschlüsse auf den Textinhalt zulassen wie etwa bestimmte oder unbestimmte Artikel, Konjunktionen oder Präpositionen.

Solche Word Clouds lassen sich mit frei verfügbaren Tools einfach generieren, z.B. mit Wordle oder den Voyant Tools, einem Toolkit zur Textexploration, bei dem sich sogar die Anzahl der angezeigten Wörter einstellen lässt.

Word Cloud mit 25 Wörtern, Voyant Tools, 2017
Word Cloud mit allen 360 Wörtern, Voyant Tools, 2017

Inwiefern Wortwolken für die Textexploration sinnvoll sind, darüber lässt sich streiten. Aber darum soll es hier auch gar nicht gehen. Vielmehr habe ich mich gefragt, ob sich das Prinzip nicht auch auf Bilder übertragen lässt, um einem Text eine Bildebene hinzuzufügen, die ihn einerseits illustriert, andererseits aber auch visualisiert – eine Fragestellung, die mich schon einmal umgetrieben hat.

Analysiere ich meine Kurzgeschichte Bert brach Olt die Ohren, die hier als Beispiel dienen soll, mit den besagten Voyant Tools, dann erfahre ich, dass sie aus insgesamt 580 Wörtern besteht, wovon 360 nur je einmal vorkommen, und dass Bert, Olt, digitalen, Ebene und rückgängig die fünf häufigsten Wörter sind. Bert kommt siebenmal vor, Olt fünfmal, digitalen, Ebene und rückgängig je dreimal.

Meine Idee besteht nun darin, die zentralen Begriffe eines Textes durch je ein Bild zu repräsentieren, so dass sich die verschiedenen Bilder sich zu einer Collage zusammenfügen, die ich Mix Pix nennen möchte. (Für einen Moment hatte ich überlegt, eine solche Bildcollage in Analogie zu Wordle Picle zu nennen, was im Deutschen aber doch sehr unschöne Assoziationen weckt.)

Ein solches Mix Pix habe ich beispielhaft für meinen Bert-Olt-Text entwickelt, wobei ich mich dafür entschieden habe, neben den Protagonisten Bert und Olt nur die beiden Wörter digitalen und rückgängig zu visualisieren und das Wort Ebene außen vor zu lassen, weil es mir im Vergleich weniger relevant erschien. Da ich meine Entscheidung aber nicht nur auf einen subjektiven Eindruck gründen wollte, habe ich noch einmal genauer hingesehen und festgestellt, dass die anderen Wörter noch jeweils in einer Variante vorkommen, sei es in ihrer Genitivform, etwa Berts (einmal) und Olts (zweimal), oder anderweitig flektiert, etwa digitaler (zweimal), oder aber in Form eines Synonyms, wie Undo (einmal) für rückgängig. Diese Beobachtung hat mich lange grübeln lassen, ob ich diese Varianten nicht auch in die Zählung einbeziehen sollte – und ja, ich habe mich dafür entschieden. Damit sind die Mix Pix mehr als bloße Statistik und mehr Illustration als Visualisierung. Und das sollen sie auch sein.

Nun aber endlich zur konkreten Umsetzung dieser ganzen doch etwas trockenen Überlegungen: Die passenden Bilder hatte ich praktischerweise schon parat, da ich den Text bereits Anfang vergangenen Jahres illustriert hatte, um ein kleines Büchlein zu gestalten. Also habe ich die entsprechenden Bilder quadratisch zugeschnitten und so skaliert, dass die Seitenlänge des Quadrats der jeweiligen Worthäufigkeit entspricht. Nach rein ästhetischen Gesichtspunkten habe ich die Bilder schließlich nebeneinander angeordnet und mit einer schwarzen Linie umrandet, um sie optisch besser voneinander abzugrenzen. Fertig ist das erste Mix Pix.

Mix Pix #1, Ruth Reiche, 2017

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THE BIRD

Die Bildgeschichte THE BIRD hat eine etwas längere Entstehungsgeschichte hinter sich: Die Idee hierzu entstand bereits 2013 – und zwar als ich an meiner Dissertation geschrieben und mich mit dem Loop in der Medienkunst und dem Erzählen in Schleifen beschäftigt habe. Dies war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, dass sich Theorie und Praxis nicht gegenseitig blockieren, sondern bekräftigen. Nachdem ich Videoarbeiten wie Julian Rosefeldts THE SHIFT (2008) oder Stan Douglas JOURNEY INTO FEAR (2001) gesehen hatte, wollte ich unbedingt auch selbst eine Geschichte entwickeln, in der das Ende auf den Anfang verweist, ohne jedoch exakt an den Anfang zurückzuführen.

Die ersten Skizzen, die die einzelnen Schritte der Handlung beschreiben, waren schnell erledigt, doch die Ausarbeitung stockte immer wieder. Bislang hatte ich überwiegend einzelne Bilder hergestellt, schnelle Erfolgserlebnisse. Ich war es schlicht noch nicht gewohnt, so viele Bilder in exakt demselben Stil herzustellen. Erst vergangenes Jahr – sicher nicht zufällig nach der Publikation meiner Dissertation, die mich einiges an Disziplin und Durchhaltevermögen gelehrt hat – war ich soweit, auch dieses Projekt endlich durchzuziehen und Bild für Bild umzusetzen: Insgesamt entstanden so zwanzig Bilder, 25 x 25 cm, allesamt gezeichnet mit Pigmentliner, schwarzem Buntstift und stellenweisen Highlights aus rotem handgeschöpftem Papier.

THE BIRD entstand aus der Beschäftigung mit Film und Medienkunst. Wie ihr wisst, ist mein Medium nicht das bewegte Bild, sondern die Zeichnung. Die Videokunst, oftmals geprägt durch ihren Umgang mit Filmikonen, ist jedoch vertreten. Auch die Referenz auf Hitchcock dürfte ziemlich eindeutig sein, obwohl die Geschichte selbst letztlich überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr mit dem Horrorklassiker aufweist. Abgesehen davon, dass hier nur ein Vogel agiert, ist dieser zudem mehr Opfer als Täter. Er ist ein Gefangener auf der Suche nach Freiheit.

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Neuschnee

Neuschnee

Flockenflaum zum ersten Mal zu prägen
mit des Schuhs geheimnisvoller Spur,
einen ersten schmalen Pfad zu schrägen
durch des Schneefelds jungfräulicher Flur –

kindisch ist und köstlich solch Beginnen,
wenn der Wald dir um die Stirne rauscht
oder mit bestrahlten Gletscherzinnen
deine Seele leuchtende Grüße tauscht.

– Christian Morgenstern

Kindisch und köstlich ist es auch mit Processing zu experimentieren, um neue Pfade zu prägen. Diesmal habe ich damit herumgespielt, das als Leitthema stellvertretend ausgewählte Gedicht Morgensterns in eine visuelle Gestalt zu bringen, sprich Text in Bild zu transformieren. Dabei habe ich mich von der automatisierten Erzeugung von Farbpaletten inspirieren lassen, wie sie von Hartmut Bohnacker et al. in ihrem Buch bzw. der dazugehörigen Website Generative Gestaltung anschaulich vorgeführt wird.

Das Gedicht „Neuschnee“ besitzt 265 Buchstaben. Daher habe ich die Bildfläche in ein Raster mit 265 Farbfeldern unterteilt. Jedes Farbfeld repräsentiert also einen Buchstaben. Beim ersten Bild ist jedem Buchstaben eine bestimmte, zufällig generierte Farbe zugeordnet; beim zweiten Bild ein bestimmter, ebenfalls zufällig generierter Grauwert; beim dritten Bild schließlich habe ich zwischen Vokalen und Konsonanten unterschieden: Die Vokale erscheinen jeweils in einem Rotton, der zufällig in Sättigung und Helligkeit variiert, die Konsonanten hingegen in einem komplementären und ebenfalls in Sättigung und Helligkeit changierenden Blauton.

Random Colors

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Random Black & White

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Vowels and Consonants

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Vincent van Gogh digital

Vincent van Gogh (1853-1890) zählt zu denjenigen Künstlern, die während ihrer gesamten Schaffenszeit immer wieder auch Selbstporträts angefertigt haben. Die Selbstporträts van Goghs sind dabei nicht nur bloße Abbildung seines Äußeren, sondern vielmehr Selbstreflexionen. Aus diesem Grund erscheint es mir lohnenswert, seine Selbstporträts einer digitalen Spiegelung zu unterziehen, d.h. die Pixel ihrer digitalen Repräsentationen nach Farbtönen zu sortieren. Hierfür habe ich testweise zwei Selbstporträts aus dem Jahr 1887 ausgewählt, die sich in ihrer Komposition stark ähneln, in der Farbgebung aber deutlich unterscheiden.

Selbstporträt mit Filzhut

Vincent van Gogh - Self-portrait with grey felt hat - Google Art Project

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Selbstporträt mit Strohhut

Van Gogh Self-Portrait with Straw Hat 1887-Metropolitan

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Mona Lisa mal anders

Die Mona Lisa von Leonardo da Vinci, wer kennt sie nicht. In Paris, im Louvre, gesichert hinter Glas und einer Absperrung, kann man sie, meist von einer Traube Selfies schießender Menschen umringt, nur selten ungestört betrachten.

Einen anderen Blick erlaubt ihre digitale Repräsentation, die zwar der Aura des Originals entbehrt, dafür aber aus Pixeln besteht, rasterförmig angeordneten Einheiten, denen je ein Farbwert zugeordnet ist. Das Schöne daran: Diese Pixel lassen sich sortieren, etwa nach Helligkeit, Sättigung und Farbton.

ORIGINAL
pic2_monalisa

HUE
161128_084639_pic2_monalisa_hue

SATURATION
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BRIGHTNESS
161128_084646_pic2_monalisa_brightness

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Bert brecht Olt die Ohren (Skizzen und Ergebnis)

Manchmal ist es interessant, nicht nur das fertige Produkt zu sehen, sondern etwas über den Entstehungsprozess zu erfahren. Für das Künstlerbuch Bert brecht Olt die Ohren sind insgesamt 13 etwas aufwändigere Zeichnungen und über 25 kleinere Zeichnungen und handgeschriebene Texttäfelchen entstanden. Da das Zeichnen mit Pigmentliner keinerlei Korrekturen erlaubt, habe ich vorab meine Vorstellungen grob skizziert, um sie dann mit vielen Details spielerisch ins finale Medium umzusetzen. Hier drei Beispiele zum Vergleich:

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Bert brecht Olt die Ohren (Künstlerbuch)

Die Geschichte vom Kaninchen namens Olt, das dem Künstler Bert als Modell dient, gibt es nicht nur in der digitalen Welt meines Blogs zu bestaunen, sondern auch ganz real als Künstlerbuch zu erwerben, das ich in einer Kleinstauflage von 5 Stück (+ 1 Artist Print) selbst hergestellt habe, indem ich die Original-Zeichnungen eingescannt, auf Büttenpapier gedruckt, zugeschnitten und mit einem Faden per Hand gebunden habe. Das kleine Büchlein umfasst insgesamt 32 Seiten. Hier ein paar Impressionen:

 

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Uhren, die zweite…

… und die dritte. Meine erste umgestaltete Küchenuhr hat zwei Nachfolger bekommen: diesmal kriechen allerdings keine Schnecken im Uhrzeigersinn herum, sondern Schmetterlinge zeigen die Zeit an. Bei der einen Uhr verteilen sich Schwalbenschwänze in aufgelockerter Fraktalform über das Zifferblatt; bei der anderen ist es ein Tagpfauenauge, das von den Zeigern gleichsam aufgespießt und in einer Glasvitrine verwahrt zu sein scheint – aufbewahrt für die Ewigkeit.

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