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Was heißt narrativ?

Die Begriffe narrativ, erzählerisch, erzählend u.s.w. werden häufig verwendet, dabei ebenso häufig ohne zu hinterfragen, was sie eigentlich aussagen. Um einem naiven Erzählbegriff in den Kunstwissenschaften entgegenzuwirken, habe ich mich in den letzten Monaten intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, was der Terminus narrativ bedeutet und wie er sich vom Nicht-Narrativen abgrenzen lässt, um verschiedene Strategien des Narrativen in Film- und Videoinstallationen systematisch zu erfassen und Grautöne offenzulegen. Dies ist wichtig, da sich gerade die zeitgenössische Kunst auf eine Art und Weise mit dem Erzählen beschäftigt, die dieses meist zu unterlaufen bestrebt ist. Meine Ergebnisse habe ich in vier Grafiken zusammengefasst, die ich hier nun als eine Art ‚Preview‘ auf ein Kapitel meiner Dissertation vorstellen möchte.

In Anlehnung an Werner Wolf begreife ich das Narrative als ein kognitives Schema, das überwiegend mittels werkinterner, aber auch -externer Stimuli im Rezipienten aufgerufen wird. Solche Stimuli heißen Narreme. Ein Werk begreife ich demnach – ganz simpel – als narrativ, wenn in ihm mindestens ein Narrem realisiert ist. Dies erscheint mir logisch zwingend, da dieses eine Narrem bereits als ein Stimulus fungiert, der das Potential besitzt, den Rezipienten in eine Erzählhaltung zu versetzen, ihn narrativieren zu lassen. Je nach Verhältnis der werkseitigen Realisierung von Narremen und der zu erbringenden Syntheseleistung des Rezipienten ist der Ort der Narration ein anderer, das Werk ist entweder geschichtenindizierend, d.h. -andeutend, oder geschichtendarstellend. Narrativität ist folglich ein graduierbares Phänomen.

RuthReiche_narrativ_Minimaldefinition

Desweiteren ist aber nicht nur danach zu fragen, in welchem Grad ein Werk narrativ ist, sondern auch auf welcher Ebene es narrativ ist, ob es auf einer Makro- oder aber lediglich auf einer Mikroebene narrativ ist, ob also die Großform der Inhaltsorganisation die des Erzählens einer Geschichte ist oder eine nicht-narrative Großform der Inhaltsorganisation vorliegt, etwa die einer rhetorischen Figur (Vergleich etc.). Um diese zwei verschiedenen Narrativitätsbegriffe klar auseinanderzuhalten, habe ich mich dafür entschieden, die von Marie-Laure Ryan aufgemachten, von ihr jedoch leicht anders gebrauchten Termini having narrativity und being not a narrative für meine Zwecke zu adaptieren.

RuthReiche_narrativ_Grad_Ebene

Ein auf Makroebene narratives Werk kann auf Mikroebene auch nicht-narrative Werkteile besitzen. Umgekehrt kann ein auf Makroebene nicht-narratives Werk aber auch narrative Werkteile besitzen, so dass sich die Frage danach, auf welcher Ebene die Narrativität angesiedelt ist, ins Unendlich wiederholt.

RuthReiche_narrativ_Rekursion

Und hier schließlich eine Zusammenfassung, an der man sehr schön erkennt, weshalb es so leicht zu Mißverständnissen in der Frage, ob alles narrativ sei, kommt. Die Grenze zwischen dem Narrativen und dem Nicht-Narrativen ist an der Stelle durchlässig, an der ein Werk zwar Narrativität besitzt, jedoch nicht auf einer Makroebene.

RuthReiche_narrativ_Zusammenfassung

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Reflexionen

Walking down the Regent’s Canal… Eigentlich war ich auf der Suche nach Galerien, hatte gehört, es gäbe ein paar interessante im Londoner East End, in Hackney und Hoxton. Galerien habe ich keine gefunden, dafür aber Inspiration. Einerseits angewidert vom lose treibenden Müll, anderseits nachdenklich gestimmt, ob der unausweichlichen Gentrifizierung des Hackney’schen Kanalabschnitts, zog es mich unweigerlich zu einem Spaziergang entlang des Kanals. Hier ein paar der Ergebnisse.

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Animal Farm

Animal Farm, ein beeindruckender Roman von Orson Welles, wird zu einem Spiel, einem, meinem ersten Brettspiel. Wer hätte je gedacht, dass ich einmal auf die Idee kommen würde ein Spiel zu konzipieren? Ich nicht. Die Initialzündung lieferte ein sommerlicher Spieleabend mit Freunden, an dem wir uns mit einem unglaublich langweiligen Spiel abmühten, das 2006 sogar den Kritikerpreis erhielt. Der Gedanke: Das kann ich besser. Ein paar Monate später war der erste Prototyp fertiggestellt, der über Weihnachten dank einiger Testrunden mit meinen Eltern zu einer einigermaßen spielbaren Version heranwuchs und an Silvester seine Premiere im Freundeskreis erfuhr, so dass nun weiter an den Regeln gefeilt werden kann.

AnimalFarm_Prototyp

Die Spielidee: Nachdem die Tiere den grausamen Bauer von seiner Farm vertrieben haben, leben sie in Frieden miteinander. Doch sorgen Machtgier und Ressourcenknappheit schon bald für Konflikte. Wer nicht genug zu fressen hat, der stirbt. Doch wie kommt man an genug Futter? Schlägt man den Weg des Gemeinwohls ein oder lässt man lieber sein politisches Geschick spielen?

 

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Tiefseefische

Nun hier, mit einiger Verzögerung, auch die anderen Fische der Serie. Von oben nach unten sind ein Schwarzer Drachenfisch (Malacosteus niger), ein Fangzahn (Anoplogaster cornuta), ein Fußballfisch (Himantolophus compressus) und ein Schwarzangler (Melanocetus pelecanoides) zu sehen. Der unterste Fisch spielt nur eine Nebenrolle, hat keinen Namen.

Fangzahn (Anoplogaster cornuta)

Schwarzer Drachenfisch (Malacosteus niger)

Fußballfisch (Himantolophus compressus)

Schwarzangler (Melanocetus pelecanoides)

Nebenrolle

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Himantolophus compressus

Nicht erst seit Frank Schätzings Der Schwarm fasziniert die Tiefsee den Menschen immer wieder. Tiefseefische sehen so anders aus als ihre Artgenossen, die nahe der Meeresoberfläche leben. Grund genug, ihnen eine kleine Serie zu widmen. Einer der Fische, ein Himantolophus albinares, auch „Fußballfisch“ genannt, ist hier nun zu sehen: Mit Buntstift auf schwarzem Papier gezeichnet, eingescannt, freigestellt und so seiner natürlichen Umgebung, dem Schwarz der Tiefsee, entrissen. Inspiriert zu dieser Arbeit haben mich die Fotos des Senckenberg-Instituts für Tiefseeforschung, die seit der Tiefsee-Ausstellung 2010/2011 rege im Internet kursieren.

 

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Hummelstich

Am eigenen Leib musste ich heute erfahren, dass das Gerücht, Hummeln könnten gar nicht stechen, sondern nur beißen, nicht stimmt. Dies sei allen gesagt, die diesem Irrglauben immer noch anhängen! Hummeln können stechen und das tut verdammt weh! Der Tathergang: Eine Hummel war unbemerkt in mein Hosenbein gekrochen. Sie stach mich, was mich vor lauter Schmerz einen skurillen Tanz aufführen ließ, und starb. Ihre Ruhestätte fand sie auf meinem Balkon am Fuße einer Sonnenblume. Vor ihrem feierlichem Begräbnis  wurde sie jedoch zu Beweiszwecken mehreren Scanvorgängen unterzogen (auf den Bildern ist der Stachel eindeutig zu erkennen) und trat mit ihrem Lebensende so nicht nur ins Jenseits, sondern auch in die Sphäre der Kunst ein.

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Bert brach Olt die Ohren

Bert hielt sich in den letzten Tagen, nein: Wochen, Monaten, keine einzige Sekunde in seinem Atelier im Dachgeschoss eines alten Bauernhauses auf, sondern verbrachte seine freie Zeit am Schreibtisch, genauer: an seinem neuen Spielzeug, einem digitalen Bildbearbeitungs­programm. Über die Jahre hinweg hatte er hunderte, wenn nicht gar tausende von Fotografien seines treuen Albinokaninchens, dem er aus Jux den Namen Olt gegeben hatte und das alljährlich von der Schlachtbank verschont blieb, da es sich als geduldiges Modell erwies, angefertigt, die er nun endlich zu überarbeiten gedachte. Er experimentierte mit Filtern, mit Masken, probierte sämtliche Transformationseffekte aus, die das Programm ihm zu bieten hatte, er justierte Gradationskurven, manipulierte Tonwerte, dehnte und verzerrte in seinem nicht enden wollenden Wahn die Bilder Olts, die immer stärker zu Versuchskaninchen seiner Besessenheit wurden. Immer wieder machte er sich daran, in die dilettantische Ästhetik seiner ersten Versuche einzugreifen, machte misslungene Schritte rückgängig und speicherte jeden Zwischenstand ab. Überhaupt liebte Bert das Undo sehr, erlaubte es diese Funktion ihm doch, seiner Kreativität ohne Angst völlig freien Lauf zu lassen, Olt etwa bedenkenlos zu einem unansehnlichen Ungeheuer aufzublasen, ihm schwarzes Fell und grausig leuchtende Augen zu verpassen, um ihn dann mit einem Mausklick wieder in das harmlose Kaninchen zurückzuverwandeln, das er nun einmal war.

Nachdem Bert schließlich so etwas wie Expertise auf diesem Gebiet erreicht hatte, ja sogar bereits die ein oder andere Ausstellung mit seinen digitalen Bildern bestückt hatte, sehnte er sich wieder nach echter Farbe, nach dem beißenden Geruch von Öl und Terpentin. Inspiriert von den teils psychedelisch anmutenden Ergebnissen seines Photoshop-Exzesses, stapfte er am Nachmittag eines regnerischen Tages um 15:24 Uhr endlich einmal wieder in sein ihm so vertrautes Atelier, in sein altes Reich, um eines seiner digitalen Kaninchen in Malerei umzusetzen. Ebenso wie sein prominenter Namensvetter schon 1931 konstatiert hatte, dass der Filmsehende Erzählungen anders liest als derjenige, der keine Filme rezipiert, umgekehrt aber auch der Schriftsteller die filmischen Konventionen in sein literarisches Werk über­nähme, musste Bert nun seinerseits feststellen, dass er nicht nur seine alten Gemälde durch die Brille eines an digitaler Bildbearbeitung Geschulten sah, sondern auch die Arbeitsweise an seinem neuen Projekt der spezifischen Prozesshaftigkeit digitaler Bild­bearbeitung unterlag. Statt seine Vorlage systematisch zu kopieren, legte Bert Ebene über Ebene und verteilte die Farben in großen Mengen auf der Leinwand. Plötzlich hielt er für einen Augenblick inne und betrachtete sein Ergebnis. Er war damit nicht zufrieden, ja sogar ganz und gar unzufrieden. Die letzte, voreilig aufgetragene Farbschicht – ein gebrochenes Dunkelgrün – hatte die Wirkung seines subtilen Farbspiels völlig zerstört. Reflexartig dachte Bert daran, die Transparenz dieser Ebene einfach ein wenig zu mindern oder gar diesen Schritt vollständig rückgängig zu machen. Er torkelte zurück, denn es wurde ihm schlagartig bewusst, dass dies nicht ging, er konnte ihn nicht rückgängig machen – so wie bei seinem Bildbearbeitungsprogramm, an das er sich so sehr gewöhnt hatte. Voll innerer Verzweiflung sah Bert sein Können schwinden und sank erschöpft zu Boden. Eine zähe Müdigkeit überfiel ihn, so dass er innerhalb weniger Sekunden weggenickt war.

Olt, zum sinnbildlichen Opfer des misslungenen Versuchs medialer Transformationen geworden, hoppelte um 19:02 Uhr an Berts gekrümmten Körper vorbei, beschnupperte dessen Gesicht und guckte ihn aus seinen roten Augen vorwurfsvoll an. Der Künstler schreckte aus seinem traumlosen, aber dennoch unruhigen Schlaf hoch, erwiderte Olts Blick mit einer eisigen Kälte, so als sei Olt allein für sein Versagen verantwortlich, und griff wütend nach dem Tier. Ruhig betrachtete er es von allen Seiten, dann schleuderte er es angewidert von sich und brach Olt dabei die Ohren.

Die Referenz auf Bertolt Brecht stammt aus Christopher Balmes Aufsatz „Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung“, der 2003 in dem Sammelband Crossing Media erschien. Brechts auf die Intermedialitätsdebatte bezogene Beschreibung des oben genannten Phänomens aus dessen Schrift „Über die Dreigroschen­oper“, die auf der zwanzigsten Seite des Bandes von Balme zitiert wird, inspirierte mich zu vorliegendem Text.

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The illustrated guide to a Ph.D.

Wer The illustrated guide to a Ph.D. von Matt Might noch nicht kennt, der sollte dies unbedingt nachholen. Jeder, der an einer Doktorarbeit schreibt, wird sich darin wiedererkennen, darüber schmunzeln und möglicherweise gleich ein wenig motivierter weiterarbeiten. Der lange Weg, der bis hin zur Grenze des bisherigen Wissens führt, um diese Grenze schließlich auch nur ein klein wenig auszuweiten, erscheint mir allerdings – sehr zu meinem momentanen Leidwesen – nicht so geradlinig wie dort dargestellt.

Also nicht so:

Sondern so:

 

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Alice in Advertising (without Alice)


Als ich im Urlaub Skizzen von Treibholz (s.u.) angefertigt habe, um nicht aus der Übung zu kommen, kam mir die Idee, dass es witzig aussähe, wenn ein kleines Mädchen auf einem der vertrockneten Äste säße und dieser in der Vorstellung des Betrachters folglich entweder zu einem massiven Baumstamm anwüchse oder aber das Mädchen als enorm geschrumpft wahrgenommen werden würde. Das Mädchen hieße dann natürlich Alice, denn jeder kennt die Geschichte Alice in Wonderland, in der Alice von verschiedenen Pilzen kostet, um wieder ihre normale Körpergröße zu erlangen. Diese Pilze habe ich in meinen Bildern zu einer leckeren Fliegenpilzseife und einem ebenso schmackhaften Schwefelkopfspülmittel uminterpretiert. Willkommen in der Werbewelt! Aber wo ist Alice geblieben? Hat sie nicht mehr ins Bild gepasst? Oder ist sie einfach zu sehr geschrumpft?

 

 

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1/0

Er schüttelte den Kopf. Sie hatten nicht gewusst, wer er überhaupt war. Aber sie hatten ihn geweckt. Sie hatten ihn… befreit. Er grinste in sich hinein, als er daran denken musste, wie er reagiert hatte. Er hatte versucht sich zu erinnern. An sein früheres Leben. An… einen Namen. Aber er war ihm nicht eingefallen. Dieser Ober-Bewahrer, dieser Optap, hatte das gar nicht mal so ungewöhnlich gefunden.

Ich fertige Illustrationen für den Endzeitroman 1/0 von Alexander Klempel an, eine davon ist hier – quasi als Vorankündigung auf eine geplante Veröffentlichung – zu sehen. Der Protagonist der Geschichte, Eins-Null, wird nach einer Katastrophe, welche die Erde heimgesucht hat, aus seiner Schlafkabine befreit. Die sich anschließende Suche nach seiner verlorenen Heimat, die sich als die hoffnungslos scheinende Suche nach der Erfüllung seines eigenen Schicksals entpuppt, ist von einigen hilfreichen, aber auch vielen irreführenden  Begegnungen gezeichnet.

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Pictor Doctus


Seit 28. Februar 2012 sind in der Göttinger Zentralmensa Bilder von KunsthistorikerInnen zu sehen, u.a. auch von mir. Die Ausstellung, die von Simone Arndt und Kristine Siebert initiiert wurde, beschäftigt sich mit dem Phänomen des malenden Kunsthistorikers, des so genannten Pictor Doctus:
Früher wie heute beinhaltet das Studium der Bildenden Künste völlig selbstverständlich auch Kenntnisse der Kunstgeschichte. Doch umgekehrt ist dies, zumindest offiziell, nicht der Fall, denn die künstlerische Praxis ist nicht im Studienplan angehender Kunsthistoriker enthalten. Tatsächlich findet sich kaum ein Kunsthistoriker, der sich nicht für eine gewisse Zeit selbst am praktischen Kunstschaffen versucht. Und warum auch nicht? Kann und darf man denn nicht beides sein? Kunsthistoriker und Künstler?

Ausstellende KünstlerInnen: Marija Brzoska, Marna Carlowitz, Nadja Dückmann, Laura Marahrens, Maria Pechstädt, Ruth Reiche, Imke Seidel, Kristine Siebert, Valerie Voß, Prof. Dr. Carsten-Peter Warncke.